Leda nach Michelangelo

Dieser Schenkel ist eines Mannes Glied. Dieser Körper, gekrümmt wie ein
Athletenarm, ist ein Jünglingsleib. Die beiden Falten, narbenquer unter der Rippe,
beweisen es nicht. Denkt man das zauberliche Haargeflecht, den Kopfputz weg, zeigt
sich der Leda.

Die eine Brust ist kein Gegenteil. Des Weibsgesäßes Schwergewicht, der aufgewellte
Bauch, des linken Unterschenkels und der Füße Fraulichkeiten, erklären sich im
Widerspruch. Die Leda ist es auch.

Der Schwan, der ihr am Mund ruht, ist nicht bloß Tier. Er flog ihr zu. Sie unterlag
ihm. Als Schwanin gab er darum anderer Gier nach. Verbrauchte sich durch jene, die
da bald der Leda für ihn war. Und halste, um nicht völlig zu vergehen – denn sie
stand ihm als sein Schwan mehr – diesem Leda als Geschlecht sich auf. Derart an ihn
heranreichend, daß sie, durch ihren eigenen Kuß sich selbst verführt, wieder die Leda
war und ihn erkannte.

Im Unterschied ist ihre ganze Lust. Was sie erregt, ist gleichzeitig zwei zu sein. Sie
lieben sich nicht. Liebe ist, was sie erzeugen. Das eine Ei ist beider Frucht. Sie
einend, liegt darin, sich gleich, statt ihnen, Kastor wie Polydeukes – ein dioskures
Paar.

Zwischen Nacht und Tag, bizarr verhangen, steht das Bett, ein halbes Grab. Was
Ledas Zeigefinger meint, ist längst geschehen. Sein linker Arm zieht sie wie Stein
herab. Doch scheint ihr Traum vom Schwan noch unerwacht. Dem ist bereits ein
Flügel aufgegangen. Mit letzten Federn hält er zu, wo er besaß.


Thomas Körner: Leda. Bildnisse © Acta litterarum 2011