Raffael nach Leonardo
Leda mit dem Schwan

Leibhaftigkeit geht aus von der Mitte des Leibes. Um den Nabel die warme
Birnenform seines Hügels. Lichteingesenkt blüht er auf der ihm entwachsenen
Frucht. Ein Blick in ihn kehrt unabgelenkt ins Auge zurück.

Schalenförmig ist die Scham, die sich zwischen den Schenkeln wiegt. Der Nabel steht
als ein Fixstern darüber und teilt den Weg zu beiden Brüsten, die mit ihren
Spitzenpunkten wie kleine Halbwelten vorstehen. So verborgen ist das Himmelsbild
der Jungfrau.

Vollkommenheit ist das Maß der Entstellung. Leib und rechter Schenkel sind Eins
aus dem Winkel der Hüfte - unschraffiert Fleisch. Das linke Bein ist am Becken
aufgehängt. Seine Wucht wird vom Knie zur Fußspitze gelenkt. Die Unterschenkel
staut das ausgehüftete Gleichgewicht. Eine Schönheit der Füße wäre mit Augen wie
ihren zu sehen.

Den oberen Teil des Torso verlassen die durch ihr Nichts gezeichneten Arme. Zwei
breite Bänder wehen zum Schwan hin. Der rechte schmückt sie wie ein Gürtel.
Torso wie sie, ist die Armlose so körpergleicher dem Schwan.
Ermeßbare Abstände beschreiben den Brustraum. Seine Mitte ist Höhepunkt der
rechten Brust. Mit beiden Schultern bildet er gleichseitig ein Dreieck. Sein Abstand
zum Schoßpunkt wird halbiert durch den Nabel. Ihre einheitliche Linie als Achse des
Körpers ist geneigt um das Halbmaß der Brust. Und die Drehung des Oberkörpers
beträgt dasselbe.

Neigte die Leda, sich betrachtend, ihren Kopf ebenso, sie sähe sich liegend. Die
Gelegenheit der Lage ist in ganzer Länge hinunter zu sehen. Gerade und stark sich
auflehnend, von Achsel bis Knöchel, schwanwärts. Und rund und hoch erhaben
abgewendet, hinterwärts. Zwischen sich blickend – die Lücke am Knie.
Wäre deren Eröffnung die Tragweite des Schrittes, den die Jungfrau geht? Ist die
Entfernung beschlossen im Weichen des geschlossenen Beinpaars? Zerrisse die
Nacktheit, innen dem Schwan preis?!

Noch vielleicht nicht. Ihr Blick wehrt einen anderen ab, der ihn begrenzt. Sie ist Leda
für eines Raffaels Moment. Kein Schwan teilt die Gebärde.


Thomas Körner: Leda. Bildnisse © Acta litterarum 2011