Leda nach Leonardo

Es ist eine Madonna und – o Unerschautheit – es ist eine Madonna, die nackt ist. Nie
zuvor und nie wieder danach dürfte eine Madonna so gemalt worden sein. Die
nackte Madonna, zu ihrem Wesen entblößt, von allem entkleidet, was nicht
jungfraulich ist. Das Jungfräulichste der Jungfrau aber ist ihre Scham. Nackter kann
einer Jungfrau Scham nicht sein, denn es ist eine Jungfrau, die sich nicht schämt.
Ihr Leib zeigt sich von vorn. Brüste und Oberkörper sind dem Schwan noch
zugewandt, das Antlitz, ihr geneigtes Haupt schon abgewandt. Weg vom Schwan –
den Kindern zu. Diese Verdrehung, schlangengleich, die sich im Hals des Schwanes
wiederholt, wird noch betont durch seinen Flügel über ihrer Hüfte.

Und es ist eine Eva, der die Nacktheit Natur ist, wie die Unschuld dem Paradies.
Dort verführt die teufliche Schlange Eva zur Erkenntnis. Hier vollführt der
göttliche Schwan an Leda die Empfängnis. Die Jungfräulichkeit der Eva verwandelt
die Schlange zum Schwan. Die Leda, die sich dem Schwan ergibt, erwirbt durch den
Gott Jungfräulichkeit.

Unbefleckt also ist nicht nur die Empfängnis, sondern auch die Geburt der Jungfrau.
Gleicht der rechte Flügel des Schwanes nicht dem eines Engels - und kleidet sie
ebenso?! Und ist der linke Flügel des Schwans nicht geformt wie ein Ohr? Was
verkündet er ihr mit geöffnetem Schnabel, noch lebendig gerötet vom Wort, das er
spricht?! Gerade entweicht der Gott aus ihm. Steingrau wie Fels und Eierschale, singt
Ledas Wappenvogel seinen Schwanengesang.

Daß sie eine Engelin war, die durch die Liebe zu diesem Gott die Flügel verlor und
nun ihr Menschtum gewandet in keusches Fleischdasein. Denn verbindet ein Engel
sich mit einem Gott, so entsteht Jungfräulichkeit.

Und wie aus der Milchstraße ihr Leib, wird zum Nest der Leda das Zwillingsgestirn.
Vom Schwan gelöst, neigt sich ihr Lächeln den eigeborenen Knaben zu. Für diese
Frucht liebt sie den Schwan. Sie lächelt mit dem ganzen Körper und der errötet vor
Zärtlichkeit. Doch ist in ihrem Lächeln auch enthalten, wie noch viel lieber sie
geboren hätte.

Auf der Empfängnis Wunderhaftigkeit weist der Unschuldsschmuck jener gewissen
Blume hin, mit der die Leda linkerhand die prallgewölbte Leibigkeit des Schwans
verschönt. Das sie auch Zwitterwesen sind, bedeuten Castor und Pollux zum einen,
Johannes und Jesus zum andern. Und das Bad der Paarung in haidnischer Grotte,
wie das Tauchbad der Taufe im heiligen Wasser stellen vor, was damit gemeint ist.
Denn dieses Bild erzählt nicht Sodomie, gar Unzucht eines Gottes. Dieses Bild ist
reine Theorie von Eva, Leda und Maria – die eines jungfräulichen Stammes sind.


Thomas Körner: Leda. Bildnisse © Acta litterarum 2011