II

Michelangelo
Der gefesselte Sklave



Wenn man ihn so ansieht, daß man schräg von vorn links, auf die glatte Rückseite des Blockes schaut, sieht man direkt von vorn auf die Brust.

Diese Fesselung ist unbeschreiblich und nach keiner Abbildung vorstellbar. Es scheint der Körper selbst zur Fessel gedreht, die ihn bindet.

Und es ist von dieser Seite ein Eindruck, der sich mit dem allerersten Ansehen deckt, der einer Ewigkeit. Es ist nichts mehr zu machen. Das einzige, was noch geht, ist, den Blick in die Zeit zu wenden, in der er eventuell frei war. Aber auch der Blick bewegt sich nicht mehr.

Der rechte Arm ist ganz an den Körper angelegt. Gefesselt so, daß die rechte Hand mit der Innenseite nach außen zeigt, Daumen nach oben. Der linke Arm ist ihm nach oben und hinten ge- und verdreht, und die linke Handfläche scheint ebenfalls auf den Betrachter zu ,zeigen' – also der Handrücken der linken Hand liegt auf der Hinterseite des rechten Oberarms.

Die Möglichkeit des ,Schrittes' wäre denkbar, wenn man ihn so ansieht, daß man den linken Oberarm von vorn sieht. Da könnte, was er sieht, so stark werden, daß er sich loßreißt, vom ,nur Blick', und dann von der Fessel.

Am meisten die Möglichkeit der Auflehnung gegen die Fessel, ja sogar die Wahrscheinlichkeit, daß er es schafft, ergibt sich, wenn man ihn so ansieht, daß man genau von vorn auf das rechte Knie sieht. Da ist er am energischsten, und die Kraft, die in ihm steckt, geht sogar in Kinn und Mundpartie.

Am schwächsten und machtlosesten sieht er aus, am wehrlosesten, wenn man ihn so ansieht, daß man den Nabel genau von vorn betrachtet; wahrscheinlich, weil er ,einarmig' aussieht, der nach hinten gedrehte Arm ,fehlt', ist nicht zu sehen.

Stark ist der überdicke, nach außen gewölbte Hals.

Im Gegensatz zu dem Sterbenden ist hier die fehlende Sichtbarkeit der körperlichen Sinnlichkeit, und auch das verhüllte und nicht vorhandene Geschlecht ein Element, was mit der Fesselung etwas zu tun hat. Er ist gefesselt und auch geschlechtslos, auch dort nur Sklave, während im Sterbenden die ganze Sinnlichkeit des Leibes aufblüht, ein letztes mal, weil er durch den Tod frei wird.
In dem Blick der geschlossenen Augen kann man eventuell einen Schmerz und ein Zusammengezogensein, ein leichtes Ziehen der Brauen ahnen.

(Es gibt außerdem eine Studie zum dritten Entwurf des Juliusgrabes, die einen toten Pabst zeigt. Nackt, auf einer Sitzgelegenheit, noch die Mitra auf. Das Original in der Casa Buonarotti.)



Thomas Körner: Betrachtungen © Acta litterarum 2011